Mira Bai
Als im 10. Jhdt. die ersten Moslems in Indien eindrangen, belebte im
Widerstand gegen die fremde Religion eine neue Bewegung die durch ldolatrie,
Kastenwesen und schmarotzenden Klerus wurmstichig gewordene Hindugesellschaft.
Im Vordergrund der Bewegung, die im 15. Jhdt. ihren Höhepunkt erreichte, stand
die Bhakti, die Liebe zu Gott, die bereits in der Bhagavadgita neben dem Weg des
Karma (richtigen Handelns) und des Jnana (Erkenntnis) als Möglichkeit zur
Heilserlangung steht. Nun bildeten sich überall im Land Sekten, die die
verschiedensten Formen einer möglichen Bhakti formulierten. Den größten
Siegeszug hielten dabei zwei Inkarnationen Vishnus: Rama und Krishna.
Im 12. Jhdt. schrieb ein bengalischer Dichter, Jayadeva, die Gitagovinda, den
,,Gesang des Hirten“, in deren Mittelpunkt die Liebe
Radhas und Krishnas stand. Es war dies der Beginn einer erotischen
Krishnaverehrung, die mit Radha (Mensch) den geliebten und liebenden Anhänger
Krishnas (Gott) symbolisierte. Auch Mira Bai widmete ihre Verse Krishna, den sie
hingebungsvoll liebte.
Es gibt eine Reihe widersprüchlicher Meinungen betreffs der Lebensdaten Mira
Bais und ihrer tatsächlichen verwandtschaftlichen Verhältnisse zu den
Fürstenfamilien Rajputanas. Folgender Lebenslauf mag also in Teilen unrichtig
sein. Mira Bai wurde 1503 in Kukri im heutigen Distrikt Nagaur geboren. Ihr
Vater war ein Nachkomme Rao Jodhas, des Gründers von Jodhpur. Als sie 10 Jahre
alt war, starb ihre Mutter, und Mira Bai wurde zu ihrer Großmutter nach Merta
geschickt. Zwei Jahre später starb auch der Großvater Rao Duda. Ihr Onkel Biram
Deo leitete daraufhin Mira Beis Hochzeit mit Bhoj Raj, dem Sohn Sangram Singhs
von Chittorgarh, ein. Das Mädchen, das schon damals von der Liebe zu Krishna
erfüllt warfand sich plötzlich in einer Welt von Haudegen. Ihr Schwiegervater
Sangram Singh etwa muß in seinen letzten Jahren ein von seinen Verwundungen
grauenvoll entstellter Krüppel gewesen sein: einäugig, einen Arm abgeschlagen,
ein gebrochenes Bein wollte nicht ausheilen, und über den gesamten Körper waren
nicht weniger als achtzig Narben verteilt. In dieser rauhen Welt wuchs Mira Bais
Liebe zu Krishna. Sie führt Gespräche mit Sadhus und hielt sich tagelang in
Tempeln auf, womit sie den Haß ihres Mannes und ihres Schwiegervaters auf sich
zog. 1527 fiel Bhoj Raj im Kampf gegen Bahur. Sangram Singh starb zwei Jahre
später. Der allseits unbeliebte Bikramjit zeigte sich Mira Bai gegenüber als
Tyrann. Er schloß sie in ihrem Zimmer ein und ließ sie auf einem Nagelbett
schlafen.
Er soll auch versucht haben, sie zu vergiften, doch Mira Bai überlebte.
Schließlich holte sie ihr Onkel Biram Deo nach Merta zurück. Nach der Eroberung
Mertas durch Rao Maldeo von Jodhpur brach sie zu einer Pilgerreise nach Dwarka
auf, wo sie 1546 starb. Sie hinterließ eine Sammlung von Versen, die zu
eindruckvollsten Zeugnissen erotischer Krishnalyrik gehören. Einige ihrer Lieder
werden noch heute in Rajasthan gesungen.
Von der Induskultur zu den Upanishaden.
Die Vorgeschichte des Hinduismus
Als im Jahre 1921 Forscher
mit den Ausgrabungen der Städte Mohenjo Daro und Harappa in den Distrikten Sind
und Punjab des heutigen Pakistan begannen, setzten sie große Hoffnungen in die
Funde, die sie unter dem Schutt von vier Jahrtausenden erwarteten. Doch die
stummen Zeugen konnten, wie sich herausstellte, nur wenige Fragen der
Wissenschaftler eindeutig beantworten. Bis heute wurde die Schrift auf den
Siegeln, deren Bedeutung ihrerseits unklar ist, nicht entziffert. Vor allem weiß
man nicht, warum diese Städte sowie 70 weitere Siedlungen aus jener Zeit
schließlich untergingen. Spuren einer gewaltsamen Zerstörung fand man allein in
Mohenjo Daro. Ob es sich bei den Angreifern um indoarische Einwanderer handelte,
ist ebenfalls ungewiß, gibt doch deren Kultur nicht minder zahlreiche Rätsel
auf.
Im Industal enwickelte sich, möglicherweise von Sumer beeinflußt, seit 2700 v.
Chr. eine Stadtkultur, die sehr bald ihren Höhepunkt erreichen, aber schon 2000
v. Chr. erste Verfallsstadien ausbilden sollte. Die Antwort auf die Frage, wer
oder was den Verfall einleitete, ist reine Spekulation. Die ,,dunkelhäutigen,
kleinwüchsigen, plattnasigen und häßlichen“ Menschen, wie es später die Arier
empfanden, verehrten männliche und weibliche Gottheiten, denen sie Tieropfer
darbrachten. Sie hatten einen hochentwickelten Bilderkult und heilige Symbole
wie das Hakenkreuz. Verschiedene Tiere galten ihnen als heilig, darunter aber
nicht die Kuh, sondern – als Zeichen der Macht – der Bulle. Schließlich verehrte
man hier das Phallussymbol, und man glaubt heute, in den auf den Siegeln
dargestellten Gottheiten einen in Yogastellung sitzenden Shiva und auch bereits
Durga als Muttergöttin zu erkennen. Dagegen waren die aus den südlichen Steppen
Rußlands immer weiter nach Südosten vorstoßenden Arier, die um 1500 v. Chr. auf
die im Verfall stehenden Städte des Industals trafen, vergleichsweise primitiv.
Sie waren Halbnomaden, die auf ihrer Suche nach Weideland immer häufiger in
kriegerische Auseinandersetzungen verwikkelt wurden und dahar einer
schlagkräftige Armee mit einem reichen Waffenarsenal mit sich führten. Doch die
Arier kannten weder Kultbilder noch Tempel, sie hatten keine Schrift entwickelt
und ihr diesseitsbezogener Opferkult mit den unzähligen Naturgottheiten war der
hochentwickelten, wenn auch dekadenten Stadtkultur unterlegen. Ob sie diese
Unterlegenheit erkannten oder ihnen das dekadente Stadtleben zuwider war, die
Arier entwickelten einen grenzenlosen Haß gegen die dunkelhäutigen Ureinwohner,
wie er bis heute erhalten blieb. Als die Städte gänzlich untergingen, weigerten
sich die Arier, die alten Siedlungen zu übernehmen. Die Ureinwohner zogen sich
in den Süden zurück.
Die Arier beschränkten sich, obwohl sie auf ihrer Wanderung schon mehrfach
Schriften kennengelernt hatten, weiterhin auf eine mündliche Überlieferung der
Veden, der Sprüche, die die Kulthandlungen begleiteten. Historische Ereignisse,
Landschaften oder Personen fanden in den Veden nur selten Niederschlag, denn sie
hatten ja mit dem Opfer allenfalls am Rande zu tun. Die Veden, die zum Teil
schon um 1500 v. Chr. entstanden waren und noch ca. 1000 Jahre lang um weitere
Sprüche ergänzt wurden, blieben, obwohl sie wahrscheinlich erst um die
Zeitenwende schriftlich fixiert wurden, in ihrer ursprünglichen Form erhalten,
weil die mündliche Überlieferung vom Lehrer an einen ausgewählten Schüler auf
eine möglichst genaue Kopie des Originals abzielte. Dabei wurde vom Schüler vor
allem Disziplin und blinder Glaube erwartet, auf denen später die Erkenntnis
aufbauen sollte. Schon hier zeichnet sich eine ganz andere Art von Didaktik ab,
die die Entwicklung der Philosophie Indiens entscheidend beeinflußt hat, denn
aus ihr erwächst das Stetige, die Beibehaltung von Traditionen über
Jahrtausende. Selbst wenn der Schüler eine andere Wahrheit vor Augen sieht, wird
er weiterhin auch oder ausschließlich der alten, überkommenen Wahrheit Galuben
schenken. Wie gegenwärtig wird noch heute diese Situation der altvedischen
Überlieferung, wenn man eine indische Schule, je selbst eine Universität
betritt, wo man nur zu gerne glauben mag, es ginge bei dem Lehrstoff um eine
Rezitation von Opfersprüchen! Diese Art von Überlieferung hatte ferner zur
Folge, daß nur ein kleiner Teil der Bevölkerung mit dem von den Göttern
offenbarten anfangs-und endlosen ,,Wissen“ (Veda) vertraut gemacht werden konnte
und auch sollte, denn bald schon wurden sich Lehrer und Schüler ihrer
Unersetzlichkeit und Einzigartigkeit als Priester bewußt. Mit dieser Entwicklung
ging einher, daß die Opferriten immer komplizierter, für das einfache Volk
unkontrollierbar wurde.
Die wichtigste Komponente, die der Veda dem späteren Hinduismus beisteuerte, war
die Idee von einem über den Göttern bestehenden, ewigen Weltgesetz (Rita), das
von einem höchsten Gott überwacht werde. Um diesen höchsten Gott, dem man je
nach privaten Bedürfnissen unterschiedliche Namen gab, anzurufen, vollzog man
Opfer, die dem Gott aber nur dann noch gerecht werden konnten, wenn der
fachkundige Priester, der Brahmen, über eine den Veden entsprechenden Ritus
wachte. Die Vorschriften wurden endlich so umfangreich, daß auch die Brahmanen
Anleitungen und Erläuterungen benötigten, die in den sogenannten Brahmana-Texten
enthalten sind. Hier bildete sich auch die Theorie, daß sich die Götter –
richtiger Opfervollzug vorausgesetzt – dem Willen der Brahmanen zu fügen hätten.
Vor diesem Hintergrund wird erst klar, welche Bedeutung im jetzt immer
deutlicher hervortretenden Kastenwesen den Brahmanen, die ja schon über den
Göttern standen, zufallen mußte. Unter den Brahmanen stand die Kriegerkaste, die
den Ariern das Land eroberte, unter diesen die Bauern, die für die Ernährung
aller sorgten. Sie alle aber waren Arier, neben denen die verhaßte, versklavte
Urbevölkerung bestand, die für die Arier Dienstleistungen verrichten mußten und
die man Shudras nannte.
Diese Klassifizierung zeigt sehr deutlich, daß die Arier in mancher Hinsicht auf
die Urbevölkerung angewiesen waren, daß sie sie nicht ohne weiteres ignorieren
konnten, sich aber weiterhin gegen ein Auskommen in kultureller Hinsicht mit ihr
versperrten. Die Kultur der Eingeborenen erwies sich jedoch als äußerst stark.
War sie nicht den indischen Klimaeinflüssen weit besser angepaßt? Dürrezeiten
und Hungerkastastrophen suchten jetzt auch die längst seßhaft gewordenen Arier
heim. Feindseligkeiten um Besitzansprüche brachen aus, arm und reich bekämpften
einander. Schließlich standen auch die Brahmanen im Brennpunkt der Kritik und
mit ihnen das vedische Opferwesen. Das Volk nahm immer mehr Bezug auf die
vorarischen Glau bensformen, doch verhinderte die starke Vedagläubigkeit einen
völligen Umsturz der arischen Gesellschaft. Zur Sicherung ihrer Position
entwickelten die Brahmanen, rückgreifend auf eine in der Induskultur bekannte
Jenseitsvorstellung, die Gedanken der Wiedergeburtslehre. Danach war die Seele
im Samsara verhaftet, einem endlosen Kreislauf von Wiedergeburten. Je nach guten
oder schlechten Taten war die nächstfolgende Existenz vorausbestimmt. Diese
Vergeltungskausalität gab dem Volk eine Antwort auf die Frage nach einer
sozialen Gerechtigkeit und festigte so das Kastenwesen, denn die Zugehörigkeit
zu einer Kaste hatte sich jeder durch sein Handeln im vorherigen Leben erworben.
Die Brahmana-Texte (seit ca. 1000 v. Chr.) waren nicht allein bloße
Anleitungsformeln, in ihnen spiegelt sich auch schon die Suche nach der
Beschaffenheit von Schöpfer und ewigem Weltgesetz wider. In diesen äußerst
umfangreichen Werken finden sich die vielleicht eigenwilligsten Spekulationen
der Religions geschichte. Aus der wieder und wieder neu festgelegten Rang folge
der Götter kristallisierte sich schließlich die Erfahrung heraus, daß alles Sein
auf einen Ursprung, ein wesenloses, allen Existenzen, also auch den Göttern,
innewohnendes Neutrum, das Brahman, zurückzuführen sei. Diese Idee wird
besonders in den Tempeln Südindiens höchst anschaulich, wo den Betrachter
zunächst eine unüberschaubare, grellbunte Fülle von Götterfiguren empfängt, wo
er aber im Allerheiligsten geradezu enttäuscht wird von einem bedeutungslos
wirkenden Symbol. Seit Beginn des 8. Jhdts. v. Chr. entfalten sich über jenen
Brahmana-Texten die Upanishaden, die vor dem Hintergrund der oben angedeuteten
gesellschaftlichen Veränderungen aus arischen und vorarischen Elementen
gewachsene Blüte indischer Philosophie. Die orthodoxe, opfergläubige
Priesterschicht mußte einer neuen Brahmanengeneration weichen, die die
Notwendigkeit eines Bündnisses mit der Krieger- und Adelskaste gegen die
aufstrebenden Massen erkannte, die aber auch, entgegen der bisher kritiklosen
Übernahme tradierter Glaubensformen, Gefallen an eigenen philosophischen
Betrachtungen fand. Die wichtigsten Ausformungen dieser Upanishaden-Lehren sind
neben dem zuvor erwähnten Samsara und untrennbar mit diesem verbunden die
Ewigkeit des Welt geschehens, die Verantwortlichkeit des Handelns gleich welcher
Art für das Verhaftetsein der Seele im Weltprozeß und die Möglichkeit einer
Erlösung des Atman (inneres Selbst) durch Entsagung vom Karman (das von Begierde
geleitete, gute als auch böse Tun). Das Atman, das in Menschen, Pflanzen, Tieren
und Göttern vorhanden ist, soll daraufhin ins Brahman, mit dem es identisch ist,
zurückfinden. Damit die Menschen den Lehren der Upanishaden gerecht werden und
ein in allen Belangen des Alltags der Lehre gemäßes Leben führen konnten, wurden
von den Philosophen des Adels- oder Priesterstandes Sutras (Lehrsätze) verfaßt.
Auf ihnen baut das gesellschaftliche Leben der Folgezeit bis in die heutigen
Tage auf.
Unter Hinduismus sollte man nichts anderes verstehen als die Gesamtheit aller
Lehren, die sich um die Interpretation der in den Upanishaden nur keimhaft oder
bereits voll entwickelt vorhandenen Gedanken bemühen. Sämtliche Texte bis hin zu
den Upanishaden werden als göttliche Offenbarung und damit als unumstößliche
Wahrheit angesehen. Innerhalb ihrer Grenzen bewegt sich das gesamte
hinduistische Gedankengut, das heute kaum mehr in einer Übersicht dargestellt
werden kann.
Qualvolle Ewigkeit im Land des
Rosenapfelbaums
,,Es gibt weder Anfang noch
Ende des Universums, also gibt es auch neimanden, der das Universum erschaffen
hat. Die Erde ist wie eine runde, flache Scheibe. Sie steht still. Auf dieser
Erde gibt es unzählige Kontinente und Ozeane, die gleich Armringen einander
umschlingen. All dies zusammen ist das zentrale Universum (Madhyaloka), in
dessen Mitte der erste Kontinent, Jambu Dveep, liegt, umgeben vom ersten Ozean,
dem Lavan Samundra. Im Süden von Jambu Dveep liegt Bharat Kshetra …“ So die
Erläuterung zum Jaina-Weltmodell im Nassiana- Tempel von Ajmer, die freilich
dort auf den Schrifttafeln noch weitergeführt, dabei aber nicht verständlicher
wird, denn die Schreiber gehen davon aus, daß der Besucher bereits gewisse
Kenntnisse mitbringt.
Das jainistische Weltmodell weicht in einigen Punkten vom nachfolgend
dargestellten hinduistischen ab. Nach diesem existiert nicht nur ein Universum,
sondern eine Unzahl von Weltsystemen mit je einer Erde im Mittelpunkt, mit
Höllen, Gestirnen und Paradiesen, die in Schichten über bzw. unter der Erde
liegen. Die deutsche Sprache kennt nicht einmal einen Plural des Wortes
,,Weltall“. So können wir die Aussage, daß nach indischer Vorstellung die ,,Weltalle“
einander durchdringen, was bedeutet, daß sowohl in den Atomen abgeschlossene
Welten existieren, als auch unsere Welt in ein noch größeres Universum
eingebunden ist, in keine grammatisch richtige Form bringen. All diese Welten
unterliegen den drei Stadien des Werdens, Siens und Vergehens, doch niemals wird
die Gesamtheit aller Systeme ausgelöscht sein. Unsere Erde hat nach dem Vishnu
Purana, einem Text, der um 900 n. Chr. abgeschlossen war, sieben Kontinente,
jeder von ihnen ist von einem Ozean umgeben. Die Kontinente tragen die Namen der
Pflanzen, die auf ihnen wachsen, die Ozeane sind den in ihnen enthaltenen
Flüssigkeiten benannt (so gibt es Milch, Wein- und Buttermeere). Der mittlere
Kontinent ist das Land des Rosenapfelbaums (Jambu Dveep), umgeben vom Salzmeer (Lavan
Samudra). In der Mitte von Jambu Dveep erhebt sich der goldene Götterberg Meru
(im Nassiana-Tempel Sumeru genannt). Sechs Gebirge durchziehen Jambu Dveep und
teilen den Kontinent in sieben Varshas (Länder) auf; das südliche Land heißt
Bharat Varsha (oben Bharat Kshetra) nach König Bharata. Bharat Varsha (Indien)
ist also nicht ,,das Land, wo Milch und Honig fließen“, wie man im Westen gern
verächtlich sagt, es ist nur das Land, in dem die Vorstellung von um andere,
glücklichere Kontinente wogenden Milchmeeren geboren wurde. Im Gegenteil ist
Indien nach eigener Auffassung ein Land, wo es zwar glückliche Zeiten gegeben
hat und auch wieder geben wird, wo diese aber in immer gleichen Perioden von
qualvollen Zeiten abgelöst werden. Dennoch ist Indien das beste Land, denn es
besitzt den wahren Glauben.
Man erinnere sich an des Gespräch mit den Bewohnern von Sam (ein Dorf in der
Nähe von Jaisalmer). Einige von ihnen kannten Jaisalmer nur aus Erzählungen,
manche waren nicht einmal in den Nachbardörfern gewesen. Was man ihnen über
diese unbekannte Welt erzählte, das glaubten sie. Und sie glaubten an die ewigen
Weltgesetze. Wie hätten wir ihnen erklären sollen, aus welchem Land wir kommen?
Was hätte ihnen dieses Wissen genutzt? Wenn wir das im Nassiana-Tempel
ausgestellte Weltmodell belächelt haben, so war der Anlaß dazu allein
Darstellungsform, nicht aber die Vorstellung selbst, die zudem im modernen
Indien mehr und mehr verdrängt wird vom kopernikanischen System. Milch und
Buttermeere sind wie geschaffen, zum Gespött westlichen Fortschrittsglaubens zu
werden. Wir dürfen dabei zum einen aber nicht vergessen, daß wir solchen
Vorstellungen selbst noch nicht allzu lange entwachsen sind. (Papst Urban VIII.
verwarf Galileis ketzerische Ideen, und manch orthodoxer Katholik mag dies heute
noch tun.) Zum anderen sollten wir daran denken, wie sehr sich unsere heutigen
Wissenschaftler von uns entfernen, ja entfremden. Wer außer ihnen weiß schon
etwas mit Quanten anzufangen, die, wollte man den Gelehrten Glauben schenken,
unerläßlicher Bestandteil der Allgemeinbildung sind? Und, so kann man weiter
fragen, wird man vielleicht ein Jahrhundert später über die Wissenschaftler mit
ihren armseligen Quanten lachen?
Im übrigen ist es interessant zu wissen, daß sich die moderne Wissenschaft
vielen Gedanken des alten Indiens, so etwa der buddhistischen Dharmalehre, eher
annähert, als sich von diesen zu entfernen. Ein solches Beispiel liegt auch bei
der indischen Zeitvorstellung vor, die mit den Erkenntnissen westlicher
Astronomen weit besser übereinstimmt als der zeitlich beengte christliche
Gedanke vom Reich Gottes. Ein solches Zeitmodell, das auch Werden, Sein und
Vergehen der Welten veranschaulicht, findet sich ebenfalls im Vishnu Purana.
Danach steigt Brahma, der Erschaffer der Welt, am Morgen eines jeden Brahmatages
aus dem Lotos empor, der aus dem Nabel des höchsten Gottes Vishnu wächst. Für
Brahma beginnt damit eine Morgendämmerung von 1 728 000 Menschenjahren. Die Erde
muß nun neu entstehen. Am Morgen des Brahmatages, an dem wir heutigen Menschen
leben, rettete Vishnu in seiner Inkarnation als Eber die Erde vom Meeresgrund.
Nach dieser
Morgendämmerung beginnt für die neuerschaffene Menschheit die glückliche Zeit,
das Kritayung von 4000 Götterjahren (1 Götterjahr = 360 Menschenjahre), dem eine
Morgendämmerung von 400 Götterjahren vorausgeht und eine ebenso lange
Abenddämmerung folgt. Die Menschen im Kritayuga leben in Wohlstand, sind
glücklich und erfüllen die gottgegebenen Gesetze. Doch dieser Zustand kann nicht
ewig anhalten. Mißgunst macht sich breit, die Menschen streiten miteinander und
vernachlässigen ihre Pflichten. Auf das Kritayuga folgt ein schlechteres
Zeitalter, das Tretayuga mit 3600 Götterjahren (300 Morgendämmerung, 3000 Tag,
300 Abenddämmerung), dar auf ein wiederum schlechteres Dvaparayuga mit einer
Dauer von 2400 Götterjahren. Schließlich ist die Welt von Boshaftigkeit so sehr
erfüllt, daß die einst hünenhaften, langlebigen Menschen zur Strafe ins Kaliyuga
mit 1200 Götterjahren gestürzt werden. Das Leben des Individuums ist nur noch
von kurzer Dauer. Auch die Entstehung des Kastenwesens wurde im Kaliyuga
notwendig. Am Ende des Kaliyuga ist die Welt so schlecht, daß sie zerstört
werden muß. Vom Kritayuga bis zum Kaliyuga zählen wir 4 320 000 Menschenjahre.
Diese Zeitspanne wird Mahayuga genannt. Der Schöpfungswille des Gottes
einerseits und die zu belohnenden oder zu bestrafenden Taten der Seelen
andererseits erfordern eine Neuerschaffung der Welt. Für Brahma hat der Morgen
mit diesem ersten Mahayuga, dem an diesem Tag noch tausend weitere folgen
sollen, gerade erst begonnen. Nach 71 Mahayugas folgt zunächst eine
Abenddämmerung von der Länge eines Kritayugas. Danach ist eine gründlichere
Vernichtung der Erde notwendig geworden. Um die Menschheit zu retten, muß Vishnu
abermals ins Weltgeschehen eingreifen, um einen Manu, einen Stammvater der
nächstfolgenden Menschheit, aus der großen Sintflut zu retten. (Dies deutet auf
die Herkunft der Idee einer Weltvernichtung aus der vorarischen Zeit hin, als
die Induskultur Verbindung mit Sumer hatte, wo das mit der biblischen Sintflut
verwandte Gilgamesh-Epos entstand.) 71 Mahayugas bilden ein Manvantara, an
dessen Ende auch die in der Rangfolge unter Brahma stehenden Götter sterben. Es
folgt eine Abenddämmerung, das folgende Manvatara beginnt jedoch nicht mit einer
Morgendämmerung. Nach 14 Manvantaras ist der Brahmatag (Kalpa) beendet. Jetzt
wird nicht nur die Erde vernichtet, sondern das gesamte Universum erliegt der
zerstörenden Kraft des Gottes. Die Nacht, in der Brahma im Lotos ruht, dauert
ebenfalls 14 Manvantaras. In dieser Nacht leben nur die höchsten Götter, die die
Seelen der Menschen in sich aufnehmen. Brahmas Leben währt 36 500 solcher Tage.
Eine genaue Berechnung ergibt eine Lebensspanne von 311,04 Trillionen Jahren.
Doch auch diesem Brahma wird ein nächster folgen, und es wird unzählige Brahmas
geben, die immer wieder aus Vishnus Schöpfungskraft hervorgehen. Wir heutigen
Menschen leben in einem Kaliyuga des 7. Manvantaras des 1. Tages des 51.
Lebensjahres dieses Brahma. Die epische Dichtung des Ramayana wird im
vorausgehenden Tretayuga angesetzt, das Mahabharata im Dvaparayuga. Das Kaliyuga
begann am 18. Februar 3102v. Chr., dem Todestag Krishnas. Es wird im Jahre 426
917 n. Chr. beendet sein.
Aus dieser immensen Zeitvorstellung erklärt sich die Bedeutungslosigkeit des
Individuums, die Sinnlosigkeit seines Handelns, das dem Inder eigene
Desinteresse an historischen Ereignissen, die doch ohnehin in Zyklen
wiederkehren werden. Es erklärt seine Vorliebe für die vielen unglaubhaften
Datierungen, die uns übrigens bei der Erstellung der Geschichte Rajasthans große
Schwierigkeiten bereitet haben. Legenden werden Wirklichkeit, Götter werden
Menschen und Menschen – dies ermöglicht ihnen das in Aeonen erworbene Karman –
werden Götter. Der Gedanke an ein Leben nach diesem Leben, eine nächste Existenz
nach dem Vergehen dieser Existenz ist dem Westen, das beweist die Zuflucht
vieler Menschen zu indischen Philosophien, durchaus nicht unangenehm. Es zeugt
jedoch von tiefem Mißverständnis der Wiedergeburtslehre, die das Herumirren der
Seele in der Zeit als qualvoll und beinahe ausweglos erachtet.
330 Millionen Götter
In dem oben beschriebenen
Weltmodell ist bereits angedeutet, daß im Hinduismus auch eine Hierarchie in der
Welt der Götter angenommen wird, denn die langlebigen, aber doch sterblichen
Brahmas sind Geschöpfe Vishnus. Das heiß, diese Götter sind ebenso wie die
Menschen den Gesetzen des Karman unterworfen und damit nichts anderes als eine
Stufe auf der Leiter, die von der Pflanze über die Tierwelt und den Menschen bis
hin zum Erlösten reicht. Die unzähligen Gestalten des Pantheons die uns in
Tempeln, Legenden und auf den Götterbildern der Hausaltäre begegnen, sie sind
nichts als eine göttliche Instanz, die der Mensch in der Not anruft, die ihm
aber nicht die Erlösung bringen kann, da sie selbst erlösungsbedürftig ist.
Das Element des Anrufens einer für ein bestimmtes Anliegen zuständigen Gottheit
stammt aus der vedischen Zeit. Die lebensfrohe arische Gesellschaft erhoffte von
dem Gott, dem sie ein Opfer brachte, eine Gegenleistung. Die oberste Gottheit
jener Zeit war Indra, ein trinkfreudiger Krieger, der mit seinem Donnerkeil
Gewitter entsandte. Als die Arier bei ihrem Vordringen in die Gangesebene mehr
und mehr vom indischen Klima beeinflußt wurden, nahm Indra den Charakter eines
Regengottes an. Auch die anderen vedischen Gottheiten wandelten im Laufe der
Jahrhunderte ihre Bedeutung, doch lassen sich ihre Wandlungsstufen nicht mehr
genau rekonstruieren. Die nach Indra wichtigsten Götter waren der allwissende
Hüter der Moral Varuna, der gemeinsam mit Mitra, dem Gott der Verträge, über das
Weltgesetz wachte; Agni, der Feuergott; die Flußgöttin Sarasvati: Yama, der Herr
des Jenseits; der Windgott Vayu; der Mondgott Chandra; Kubera, der Gott des
Wohlstandes; Surya, der Sonnengott und Rudra, ein fürchterlicher Gott, der
Krankheit und Tod schickte. Mit den Wandlungen, die Indien, die neue Heimat der
Arier, diesen und anderen Naturgottheiten aufzwang, änderten sich oft auch die
Namen der Götter, während ihre alten Namen, die ja in den Veden Festgelegt
waren, nebenher beibehalten wurden. Das bedeutet, daß eine Göttergestalt unter
verschiedenen Aspekten mit jeweils anderen Namen verehrt wurde. Auch dieser Zug
blieb bis in den heutigen Hinduismus erhalten. Darüber hinaus bezogen die
missionierenden Brahmanen die Namen der Götter von eingeborenen Stämmen mit in
ihr Pantheon ein, das auf diese Weise unübersehbare Ausmaße annahm. In den
Brahmana Texten wurde dann versucht, die Götternamen in ein System zu fassen und
die Beziehung der Götter zueinander zu klären.
In späteren Texten begegnen uns vor allem zwei Götter, die immer wieder
Prüfungen gegen Dämonen, aber auch gegen alte vedische Gottheiten bestehen:
Shiva und Vishnu. ,,Shiva“, den ,,Wohlgesinnten“, nannten die Arier angsterfüllt
den schrecklichen Rudra. In Shiva blieb aber vor allem eine vorarische Gottheit
erhalten, ein kraftvoller Schöpfer, dem, wie heute noch, der Lingam-Kult (Phallussymbol)
galt. Shiva ist das göttliche Vorbild des Yogis, des meditierenden Asketen. Als
weibliche, ihn ergänzende Kraft wird ihm die Göttin Shakti beigestellt, die auch
unter den Namen Sati, Parvati, Durga und Kali bekannt ist und unter diesen Namen
verschiedene, zuweilen einander widersprechende Züge aufweist. Auch diese Göttin
ist bereits in der vorarischen Zeit verehrt worden. In Shivatempeln steht der
Lingam aufrecht auf dem Symbol der Shakti, auf der Yoni (Scheide). Wie auch bei
den anderen Göttern gibt es eine ganze Reihe von Emblemen, an denen man Shiva
und Shakti auf Abbildungen erkennen kann. Hier ist z.B. Shivas Dreizack, seine
Trommel, das Antilopenfell, ein Schädel oder die grau-blaue, aschenbeschmierte
Haut, bei Shakti als Kali die Totenkopfkette zu nennen. Das wichtigste
Erkennungmerkmal einer Gottes ist sein Vahana (Tragtier), also Shivas Stier und
Shaktis Löwe. Auch die Anhänger Shivas, die Shivaiten, statten sich oft mit
einem dieser Embleme aus. Zumeist erkennt man sie an einem Dreizack oder drei
weißen horizontalen Streifen auf der Stirn.
Vishnu war in vedischer Zeit ein Name des Sonnengottes. Auch er hat eine ihn
belebende weibliche Kraft, die Göttin Lakshmi, die Glück und Reichtum beschert.
Vishnus Tragtier ist die Schlange oder der Vogel Garuda. Lakshmi wird auf einer
Lotosblüte sitzend dargestellt. Als tierische oder menschliche Inkarnation oder
Erscheinung (Avatara) greift Vishnu stets in das Weltgeschehen ein, sobald
vernichtende Gefahr droht. Im heutigen Indien ist die Annahme von 10 Avataras
weitverbreitet, was eigentlich dem zuvor dargestellten Zeitmodell widerspricht.
Die Reihenfolge der Avataras war danach: 1. als Fisch (Matsya), 2. als
Schildkröte (Kurma), 3. als Eber (Varaha), 4. als Mann-Löwe (Narasimha), 5. als
Zwerg (Vamana), 6. als Rama mit der Axt (Parashurama), 7. als Rama, der aus dem
Ramayana bekannt ist (Ramachandra), 8. als Krishna, auch Jagganath genannt. Als
neunte Inkarnation Vishnus bezogen die Vishnuiten Buddha ein. Kalki, die zehnte
Inkarnation, steht noch bevor. Einige Sekten, später auch viele Laiengläubige,
erkannten Krishna als eigene Gottheit an.
Es wurde oft versucht, Shiva und Vishnu als zwei verschiedene Verkörperungen
eines Gottes zu deuten. Im Trimurti oder Trimukhi (dreiköpfig), wie wir es auf
unserer Fahrt durch Rajasthan in Chittorgarh gesehen haben, tritt noch Brahma
als Dritter zu diesen beiden Göttern hinzu. Brahma wird dann als Welterschaffer,
Vishnu als Erhalter und Shiva als Zerstörer gesehen. Alle drei sind Aspekte
eines namenlosen Gottes, der den Shivaiten jedoch als Shiva, den Vishnuiten als
Vishnu gilt. Brahma wird in Indien nur in einem einzigen Tempel, in Pushkar,
verehrt. Welterschaffer ist er nur im Sinne eines Bauherrn. Er wird zumeist mit
vier, in die vier Himmelrichtungen blickenden Köpfen dargestellt. Als weibliche
Gottheit wird ihm Sarasvati, die Göttin der Künste, oder auch Savitri, die
Verkörperung eins Veda-Gedichtes, beigestellt. Brahmas Tragtier ist der Schwan.
Acht vedische Götter wurden als Hüter der Himmelrichtungen beibehalten: Indra
(O), Agni (SO), Yama (S), Surya (SW), Varuna (W), Vayu (NW), Kubera (N), Chandra
(NO). Verehrung finden sie jedoch nur noch selten. Wichtigkeit haben in der
indischen Neuzeit vor allem Ganesha und Hanuman erlangt. Ganesha ist der
elefantenköpfige Sohn Shivas, der Gott der Gelehrsamkeit und der Schreibkunst.
Shiva selbst soll seinem Sohn im Zorn den Kopf abgeschlagen und dann geschworen
haben, Ganesha den Kopf des Lebewesens aufzusetzen, das als nächstes ihren Weg
kreuzen werde. Dieses Lebewesen war ein Elefant. Hanuman ist der aus dem
Ramayana bekannte Affengott, der heute die Ernte segnen und aus jeder Not retten
soll. Über all in Rajasthan sieht man die rotbemalten Steine am Wegesrand, die
der Verehrung Hanumans geweiht sind. Zu erwähnen sind außerdem noch der
10-köpfige, auf einem Pfau reitende Kriegsgott Kartikkeya, auch Skanda genannt,
ebenfalls ein Sohn Shivas; der Liebesgott Kama und Vishwakarman, der Gott des
Handwerks.
Man darf sich nun keinesfalls vorstellen, daß auch nur dieser kleine Teil,
dieses bisher erläuterte Gedankengut der indischen Philosophie allseits in
Indien Verbreitung gefunden hätte. Der Weg zur Erlösung über das Wissen (Jnana-Marga)
blieb den Philosophen der Brahmanen- und Kshatriya-Kaste vorbehalten. Der Weg
über verdienstvolle Taten (Karma-Marga) erwies sich als zu schwierig. So ist vor
allem die Bhakti-Bewegung, der Weg über die Liebe zum Gott und die Ergebenheit
in seine Allmacht, volkstümlich geworden. Zwar liegt auch der Bhakti letzlich
das ,,Wissen“ (Veda) zugrunde, doch wird es durch die vielen, leicht
vollziehbaren Tempelrituale überdeckt, in denen sich heute vielerorts in Indien
die Religiösität zu erschöpfen scheint. Die meisten dieser Rituale wie das
reinigende Bad, die Blumenopfer, das Anzünden von Räucherstäbchen oder die
Salbung von Götterstatuen sind dem Indienreisenden zur Genüge bekannt. Dabei
werden den niedrigeren Göttern wie Hanuman oder Ganesha nur kleinere Blumen-
oder Geldopfer an unbedeutenden Schreinen dargereicht. Umfangreiche Rituale in
den auch kunstgeschichtlich wichtigen Tempeln gelten allein den Göttern Shiva
und Vishnu oder ihren unter anderen Namen bekannten Aspekten oder Inkarnationen.
Nur wenige Tempel sind den weiblichen Gottheiten gewidmet.
Der Bilderkult ist wie vieles andere ein Element vorarischer Religiösität. Die
Arier kannten nur das unter freiem Himmel an einem Altar verrichtete Opferfeuer,
sowie Tier- und möglicherweise auch Menschenopfer. Auch die religiösen
Waschungen wurden der Religion der Induskultur entnommen. Als die Arier den
Bilderkult ihr Ritual einbezogen, benötigten sie für die aus Lehm und Holz
gefertigten Standbilder Schutzunterstände. Dies waren zunächst einfache
Bambuszelte, deren Zukkerhutform den Tempelbau Nordindiens beeinflussen sollte,
denn als später die Holz- und darauf die Steinkonstruktion das Bambusgestell
ablöste, wurde traditionsgetreu die Bambusbauweise beibehalten. Der Shikara, das
Symbol des Götterberges Meru, der Tempelturm, der uns in vielen Varianten in
Nordindien begegnet, er ist nichts anderes als die Weiterent wicklung jenes
Bambuszeltes. Unter dem Shikara befindet sich das Allerheiligste, Garbhagriha
genannt, wo bis auf den heutigen Tag vor dem Symbol des angebeteten Gottes
Blumen abgelegt werden. In Shivatempeln steht hier zumeist der Lingam, manchmal
auch der Stier Nandi, Shivas Tragtier, oder ein Dreizack. Im Vishnutempel findet
man in der Garbhagriha häufig den Garuda. Erst im 8. nachchristlichen
Jahrhundert, zu der Zeit, als die Bhakti-Bewegung ihren Aufschwung nahm, wurde
in Nordindien der Garbhagriha ein Versammlungsraum für die Gläubigen angefügt,
die Mukhashala.
Was ist die in Bezug auf Indien vielfach zitierte Durchdringung des Alltags, des
privaten wie des öffentlichen Bereiches, mit Elementen der Religion? Es ist das
Zeugnis eines von Priestern gestifteten Aberglaubens, eines Verhaftetseins in
Traditionen und einer kindlichen Gottesfurcht. Wir haben hier versucht, den
Ritus auf einige simple Bestandteile zurückzuführen, um der Religiösität des
indischen Volkes, diesem zweifellos farben frohen Glanz, ein wenig von ihrem
Mythos zu nehmen. Es sind nicht die Philosophien Indiens, die ihren Weg zum Volk
gefun den haben, wie man häufig im Westen glaubt. Es sind allein die auf diesen
Philosophien aufbauenden, oft ungereimten Lehrsätze, die das gesellschaftliche
Leben bestimmten. In der Erfüllung der in den Lehrsätzen auferlegten Pflichten
wird die rechte Lebensweise gesehen. Dazu gehören auch die Erteilung der
Sakramente und das Befolgen der Kastenvorschriften.
Die Sakramente
Die Raga Bhimpalasi hörte
zum ersten Mal, als die indische Musik im Westen populär zu werden begann. Das
Arrangement nannte sich Dhun, wurde auf Flöte und Rabab, einem Saiteninstrument,
gespielt und von der Dholak begleitet, einem Schlaginstrument, das europäische
Ohren kaum von der Tabla unterscheiden können.
Am Morgen unseres zweiten Tages in Indien wurden wir beide gleichzeitig von
Musik geweckt. Magdalena hatte geträumt, sie arbeite in einem Kindergarten. Die
Kinder, außer Rand und Band, trommelten, schepperten und tröteten auf allen
erdenklichen Spielzeuginstrumenten und waren nicht mehr zur Vernunft zu bringen.
Sie wurde wach, aber damit hatte der Tumult für sie noch kein Ende. Ich erkannte
in dem, was zwei Stockwerke unter uns die Bazarstraße zu sprengen drohte, eben
jene Raga Bhimpalasi. Statt Flöte, Rabab und Dholak gaben jedoch Pauken und
Trompeten eine solche Kakophonie zum Besten, daß wir nur so aus uns
herausplatzten. Wir warfen einen Blick auf die Straße und sahen eine
Blechblascombo in hellblauer Uniform, die sich mit Verzückung in Glissandos
versuchte, dabei aber bestenfalls ,,dirty tones“ zustande brachte. Die Trommler
hielten den Rhythmus recht manierlich, während sich die verschiedensten
Trompetenfiguren skurril ineinander schlangen. An bestimmten, offenbar zuvor
abgesprochenen Stellen fiel das Tutti ein, sammelte Nachzügler auf und hielt für
wenige Takte die Balance. Schließlich schaltete sich ein Instrument nach dem
anderen aus dem Ständchen aus, und so war, wenn auch nicht mit einem
ordentlichen Finale, dennoch beizeiten Schluß.
Während wir dergleichen in Indien zuvor nie gesehen und gehört hatten, wurden
wir in den folgenden Monaten mit ähnlich aufbereiteten Stücken noch häufig an
jenen zweiten Morgen erinnert. Mal gab es Paso Doble, mal den Triumphmarsch aus
Aida. Den Musikern war nichts zu schade. Erst später erfuhren wir den Grund für
diese Umzüge: wir waren Zeugen der Barats, der Hochzeitsprozessionen, geworden.
Da die Frühlingsmonate als die günstigsten für Hochzeiten angesehen werden, und
wir bisher nur wenige Tage in dieser Jahreszeit in Indien verbracht hatten,
waren uns die Barats bislang unbekannt geblieben. Später erkundigten wir uns
nach den genauen Hochzeitsriten, insbesondere nach jenen der Rajputen. Die
klassischen Bräuche, deren wichtigste wir nachfolgend vorstellen, haben sich im
wesentlichen nicht geändert. Die komplizierten und aufwendigen Riten der
Rajputen erscheinen bei den niedrigen Kasten sowie bei der Stadtbevölkerung
gleichsam in gekürzter Form.
Bei fast ausnahmslos allen indischen Hochzeiten handelt es sich um sogenannte ,,Arranged
Marriages“, bei denen Mann und Frau von den Eltern füreinander ausgesucht
werden. Eine erste Kontaktaufnahme wird durch einen professionellen Vermittler (ghataka),
den Barbier der Familie (nai) oder bei höheren Kasten durch einen Brahmanen
eingeleitet. Ihre Aufgabe ist es, für den Jungen ein geeignetes Mädchen zu
finden. Auch der Vater des Mädchens bietet seine Tochter zur Verheiratung an,
sobald sie alt genug ist. Das wichtigste Kriterium für die Auswahl eines
Partners ist die Frage, ob sich durch die Heirat der Familienstammbaum veredeln
läßt. Eine Heirat in einen andere Kaste ist grundsätzlich untersagt. Es muß in
den gleichen Volksstamm geheiratet werden. Dagegen wird eine Heirat innerhalb
der eigenen Sippe als Inzucht betrachtet. Ebenso darf nicht in eine Familie
geheiratet werden, in die bereits ein Verwandter geheiratet hat. Während der
Mann Frauen aus allen anderen Clans akzeptieren kann, wird es generell als
Schande angesehen, wenn die Frau einen Mann von niedrigerem Rang heiratet. Dies
führte besonders in den oberen Rängen zu einem Überschuß an Frauen und Ansteigen
der Mitgiftzahlungeen bei Heiraten in noch höhere Clans. Die Ermordung
weiblicher Nachkommen war unter Rajputen keine Seltenheit. Sobald die Wahl
getroffen ist, wird im Dorf der Familie des Jungen ein Treffen mit der Familie
des Mädchens vereinbart. Symbolisch für die Hand der Tochter reicht ihr Vater
dem Vater des Jungen eine Kokosnuß, die dieser zwar ablehnen kann, was aber zu
Familienfehden bis hin zu Morden und Blutrache führen kann. Schließlich wird der
zukünftige Bräutigam der Familie der Braut vorgeführt, der Stammbaum überprüft
und die Sterne werden befragt. Wenn alles zur Zufriedenheit ausgefallen ist,
erhält der Bräutigam ein Tilak, jenen roten Punkt auf der Stirn, der das
Abkommen besiegelt.
Als nächstes wird die Höhe der Mitgift festgelegt. Diese Mitgift in Verbindung
mit den Ausgaben für die Hochzeitsfeierlichkeiten ist für die Familie der Frau
häufig Ursache einer Verschuldung, aus der sie sich erst durch die Verheiratung
eines Sohnes wieder lösen kann. Hier liegt auch der Hauptgrund, warum die Geburt
einer Tochter stets als Unglück angesehen wird. Jedoch scheut auch die Familie
des Bräutigams keine Kosten. Um sich bei den Nachbarn keiner Schande
auszusetzen, akzeptieren die Familien Zinsforderungen der Geldverleiher von bis
zu 100%. Besonders im Fall der Mitgiften ist trotz des Anti-Dowry-Gesetzes kein
Ende abzusehen, denn gerade die Jugendlichen mit hoher Schulbildung, von welchen
noch am ehesten ein Aufbegehren gegen die Traditionen zu erwarten wäre, erhoffen
sich im Bewußtsein ihres Bildungsstandes eine hohe Mitgift.
Sobald man sich über die Mitgift geeinigt hat, wird das Abkommen bei Verwandten
und Freunden bekanntgegeben, und damit ist die Verlobung vollständig. Das
Mindestalter für die Hochzeit liegt bei der Frau bei dreizehn und beim Mann bei
achtzehn Jahren. Dieses Mindestalter lag im 18. Jahrhundert bei 8-9 Jahren für
die Frau. Unter den Engländern wurde im letzten Jahrhundert die Kinderheirat
verboten, jedoch nie ganz
beseitigt. In diesem Zusammenhang spielt eine Rolle, daß gewisse, selten
wiederkehrende Tage als besonders glückverheißend gelten und die Eltern diese zu
einer vorgezogenen Hochzeit nutzen.
Der Termin für die Hochzeitszeremonie (beeah) wird wieder und wieder von einem
Priester (Purohit, hat auch Funktion eines Astrologen) berechnet, der für jede
Berechnung seine Geschenke erhält und aus diesem Grund den Termin so weit wie
möglich hinauszögert. Wie bereits erwähnt, liegt die angeblich günstigste Zeit
für die Hochzeit im Frühjahr, jedoch kommen auch andere Jahreszeiten in
Betracht, falls Sterne und Sterngucker dies anraten sollten.
Das eingangs erwähnte Barat ist gewöhnlich die einzige Zeremonie, der auch
Außenstehende beiwohnen können. In Festtagskleidung, schmuckbehangen verläßt der
Bräutigam am Morgen sein Haus, um in das der Familie der Braut zu reiten.
Zunächst versammelt man sich am Dorfbrunnen, in den die Mutter des Bräutigams
sich zu stürzen droht, falls der Mann seiner zukünftigen Frau nicht die Liebe
zuteil werden ließe, die er von der Mutter erhalten habe. Nachdem der Bräutigam
dieses Versprechen gegeben hat, setzt sich der Zug in Bewegung, um jedoch erts
am Abend im Haus der Braut anzukommen. Auf dem Weg hierher soll der Mann
Passanten mit Geld beschenken. Am Abend dieses Tages haben Braut und Bräutigam
zum ersten Mal Gelegenheit, einander für einen Augenblick zu sehen. Daraufhin
muß der Mann das Haus der Braut wieder verlassen, um auf einem eigens dafür
hergerichteten Lager aus zuruhen. In der Zwischenzeit prüfen die Eltern der
Braut die Hochzeitsgeschenke. Der Purohit kündigt schließlich die genaue Stunde
für die wichtigste Zeremonie, das Ineinanderlegen der Hände an. Daraufhin werden
Geschenke ausgetauscht. Das Agni Puja, eine mit Mangoholz entzündetes Feuer,
beschließt die Hochzeit. Braut und Bräutigam müssen in jeweils sieben Schritten
das Feuer dreimal umkreisen, während Texte aus den Veden rezitiert werden.
Nach drei weiteren Festtagen und dem Begleichen der Mitgiftrechnung begleitet
die Braut den Bräutigam in sein Haus, kehrt jedoch nach einigen Tagen zu ihren
Eltern zurück, wo sie bleibt, bis sie für ein Zusammenleben alt genug ist. Diese
Rückkehr (gaona) ist Anlaß für ein erneutes Fest.
Bei der Hochzeit erhalten die Bräute der Rajputen den traditionellen
Silberschmuck bestehend aus einem Kopfputz, einer schweren Halskette, Ohr- und
Zehenringen sowie einem Paar Fußkettchen. Dieser Schmuck wird nach dem Tod der
Frau zum Einschmelzen an einen Juwelier zurückgegeben. Zeitlebens jedoch weist
der Silberschmuck die verheiratete Frau aus. (So kam es auch nicht selten vor,
daß sich Frauen dem Verbleib von Magdalenas Silberschmuck erkundigten.)
Neben Sati und Jauhar verdient in diesem Zusammenhang noch der Brauch des Karao
Erwähnung. Karao ist die Verheiratung einer Witwe mit dem jüngeren Bruder der
Verstorbenen. Die Wiederheirat, die nach dem Gesetzbuch des Manu (ca. 300 n.
Chr.) verboten ist, wird auch nach neneren Hindugesetzen nicht geduldet. Der
Brauch des Karao wird einer falschen Auslegung des Gesetzbuches des Manu
zugeschrieben. Orthodoxe Hindus drohen mit einer Degradierung der Rajputenclans,
die dem Verbot zuwiderhandeln. Bei Nichtwiederverheiratung muß die Witwe, sofern
sie noch keinen männlichen Nachkommen hat, der für sie sorgt, in das Haus ihrer
Eltern zurückkehren, da die Familie des Mannes die Frau nicht unterhalten wird,
um nicht vor dem Hindugesetz in Mißkredit zu fallen. In den Clans, in denen
Karao dennoch erlaubt ist, heiratet der jüngere Bruder des Verstorbenen die
Witwe lediglich als Nebenfrau, während er ausschließlich mit seiner Hauptfrau
nach den orthodoxen Riten verheiratet ist.
Die Hochzeit ist eine der zwölf Karams oder Sakramente, die die männlichen
Rajputen im Laufe ihres Lebens erhalten. Wie die Hochzeitsriten, mit Ausnahme
des Barat, finden nach die anderen Karams unter Ausschluß der Öffentlichkeit
statt. Die wichtigsten Karams sind neben der Heirat jene in Verbindung mit
Geburt, Anlegen der heiligen Schnur und Tod.
Erste Riten werden schon während der Schwangerschaft vollzogen. Bei der Geburt (jat
karam) wird für den männlichen Nachkommen ein Horoskop erstellt. Nach einer
Woche Feierlichkeiten wird der Purohit mit der Festsetzung eines Tages für die
Namensgebung (nam karam) beauftragt. Vierzig Tage nach der Geburt erfolgt der
erste Ausgang, bei dem das Kind unter Begleitung von Mantras an den Sonnengott
Surya außer Haus getragen wird. Nach zwei Jahren wird ein geeigneter Tag
berechnet, an dem das Kind seinen ersten Haarschnitt erhalten soll. Bei diesem
ersten Mal soll das gesamt Haupthaar entfernt werden, während beim zweiten
Schnitt der Churki, ein kleiner Zopf am Hinterkopf, belassen wird. Später soll
der Rajput als Schüler bei einem Brahmanen in den Veden unterrichtet werden.
Dort wird er jedoch meist zu Hausarbeiten herangezogen. In der Regel ersetzt
heute die Schule diesen Lebensabschnitt. Mit der Hochzeit erhält der junge Mann
die heilige Schnur (janeo), die ihn als Angehörigen einer der drei oberen Varnas
aus zeichnet. Die aus drei Baumwollfäden bestehende Schnur soll monatlich von
einem Brahmanen erneuert werden. Die Fäden symbolisieren die Götter Brahma,
Shiva und Vishnu. Die Länge der Schnur variiert entsprechend der jeweiligen
Varna. Das erste Anlegen der Schnur (upanayana) bedeutet die zweite oder
spirituelle Geburt. In Rajasthan wird die heilige Schnur fast nur mehr vor
Brahmanen getragen.
Stirbt ein Rajput, so erhält er von einem Brahmanen die letzten Sakramente (kiriya
karam). Nach dem Tod wird der mit einem weißen Tuch bedeckte Leichnam zum
Verbrennungsplatz getragen, der in der Regel am Ufer eines Flusses liegt. Unter
Klagerufen der Trauernden wird der Leichnam rasiert, gewaschen, mit Blumen
geschmückt und neu eingekleidet. Dann wird der Körper auf einen Holzstoß,
gelegt, und der älteste Sohn des Verstorbenen entzündet das Feuer. Sobald der
Körper bis zur Hälfte verbrannt ist, soll ein Verwandter das Skelett mit einem
Stock aus heiligem Holz zerschlagen, damit die Seele entweichen kann. Die
Trauernden müssen sich nun rituell von der Befleckung durch den Tod des
Verwandten reinigen. Es folgt eine strikte Trauerperiode von zehn Tagen. In
dieser Zeit ist das Rasieren, das Tragen von Schuhen, sowie der Genuß gekochter
Speisen untersagt. Am dritten Tag nach der Verbrennung beginnen die Manenopfer (shraddha),
die einerseits die Seele des Toten auf ihrer Wanderung versorgen sollen,
andererseits die bei jeder Zeremonie anwesenden Brahmanen bei guter Gesundheit
erhalten.
Die Brahmanen sind die unzweifelhaften Nutznießer sämtlicher Karams. Die
Verfasser der Zeremonienvorschriften hatten in weiser Voraussicht stets
mindestens einen Brahmanen für den Vollzug der Riten vorgesehen. Ebenso sorgten
sie für einen umfangreichen Ritenkatalog, der mit oft haarsträubenden Argumenten
gerechtfertigt wurde. Die Shraddhas sollen noch über Jahre fortgesetzt werden.
Durch sie allein ist den Brahmanen ein geregelter Unterhalt in Form von
Naturalien gesichert. Der Rat des Purohit wird häufig eingeholt, jedoch bleibt
sein Einfluß auf die Familie und damit auch auf wichtige dorfpolitische
Entscheidungen gering. So entpuppt sich die Brahmanen kaste als reiner Parasit.
Wenn man auf ihre Anwesenheit bei rituellen Handlungen auch nicht verzichten
mag, so ist doch ihr Ansehen insbesondere unter den Rajputen nur mehr gering.
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