Surya Girhan (Ein
Reisebericht)
Die
Astronomie hat in Indien eine Jahrtausende alte Tradition. Stets spielte sie
jedoch nur eine untergeordnete Rolle: da das Leben des Menschen abhängig war von
den Elementen, mußte, wer die Zukunft voraussehen wollte, auch den Lauf der
Gestirne kennen. Bis auf den heutigen Tag ist der Glaube an glück-oder
unglückverheißende stellare Ereignisse tief im Denken des Volkes verankert.
Wir saßen, in unsere Bücher versunken, auf der Terrasse unseres Hotels. Eine
glückliche Stunde, denn allzu oft ließen wir uns gerade dann, wenn wir uns
unserer Arbeit an Indien Reisebericht widmen wollten, von nichtigen
Geschehnissen ablenken. An diesem Tag konnten wir uns jedoch außergewöhnlich gut
konzentrieren. So reagierten wir zunächst recht schroft, als uns zwei Engländer
ansprachen, um uns auf die Bedeutung dieses Tages hinzuweisen. Die beiden
reichten und das schwarze Endstück eines Films, durch das wir für wenige
Sekunden die Sonne betrachten sollten: sie war zu einem Viertel von der
Mondscheibe bedeckt. Wären wir zuvor aufmerksamer auf unsere Umgebung gewesen,
so hätten wir sicher bemerkt, daß das vor uns liegende Papier unsere Augen nicht
mehr so stark blendete.
Wir sollten an diesem Ort keine totale Sonnenfinsternis erleben, doch immerhin
beeindruckte uns auch diese geschmälerte Naturereignis. Wir unterhielten und mit
den Engländern, und von Zeit zu Zeit beobachteten wir den Hergang durch das
Filmende, das uns leider für eine längere Beobachtung keinen ausreichenden
Schutz bot. Es wurde bald merklich kühler. Der angenehm klaren Luft, der
veränderten Beleuchtung und dem tiefblauen Himmel schrieben wir eine gewisse
Andacht zu, der wir erlegen waren.
Nach dem Schauspiel verabschiedeten sich die Engländer von uns. Erst jetzt
warfen wir einen Blick nach unten auf die Straße: ausgestorben, die Läden
verschlossen, selbst auf dem nahegelegenen Militärcamp sahen wir, was sehr
ungewöhnlich war, keinen einzigen Soldaten. Wir versuchten, uns dessen zu
erinnern, was während des Lesens unserer Bücher allenfalls unser Unterbewußtsein
hätte aufnehmen können. Waren die Straßen schon seit Stunden ausgestorben? War
es etwa die Stille, das Fehlen von Autohupen und Düsenjägern, was uns unsere
Konzentration ermöglicht hatte? Oder befand sich gerade zufällig niemand auf der
Straße? Wir mußten noch einig Zeit warten, bis sich die ersten Türen öffneten,
bis sich die Einheimischen wie eh und je bewegten, als sei nichts geschehen. War
tatsächlich nichts geschehen? Wir argwöhnten, daß sich aus Angst vor der
Sonnenfinsternis niemand aus dem Haus gewagt hatte.
Wir waren inzwischen hungrig geworden und wollten unser Essen bestellen. Bei der
Gelegenheit hätten wir beim Hotelmanager oder seiner Frau, die wir für unseren
Fragen zugängliche Leute heilten, die notwendigen Erkundigungen einholen können.
Nach einigem Suchen fanden wir die Frau In einem völlig abgedunkelten Raum. Zu
ihrem weiteren Schutz vor dem Naturereignis trug sie eine Sonnenbrille;
japanischen Ursprungs übrigens. |