Jaisalmer – Bikaner 330 km via Pokaran – Phalodi (Reisebericht
einer Rajasthan Reise):
Die Strecke bis Pokaran wiederholt sich wie im Abschnitt Jodhpur –
Jaisalmer, dieses Mal jedoch ohne ein außergewöhnliches Erlebnis. 14 km
hinter Pokaran erreichen wir Ramdeora, wo sich im Februar und August
Pilger zu einem Fest treffen. Phalodi (158 km), eine Stadt, in deren
Umgebung Salz abgebaut wird, ist nicht mehr als ein weiterer unscheinbarer
Ort. Hinter der Stadt wird die Vegetation wieder dichter. An der Straße
sehen wir einige Antilopen. In dieser Gegend sind auch Kamele sehr viel
häufiger als im Jaisalmer-Distrikt. Die Züchter haben den Tieren
kunstvolle Muster ins Fell geschnitten.
Wir fahren jetzt oft von der Hauptstraße ab, um Fahrgäste aus den abseits
gelegenen Dörfern aufzunehmen. Das Herumpoltern auf den nicht
asphaltierten Nebenstraßen nacht die ohnehin lange Busfahrt noch
anstrengender. Nach 282 km erreichen wir Kolayat, eine antike Stadt mit
religiöser Bedeutung. Am Kartik Purnima, dem Vollmondtag zwischen Oktober
und November, findet hier das Kapil-Muni-Fest statt. Wie an vielen solchen
Orten soll auch ein Bad im Kolayat-See von allen Sünden reinwaschen,
insbesondere natürlich an einem glückverheißenden Tag wie dem Purnima. Ein
Tempel zur Erinnerung an Kapil Muni, einen Heiligen, der dem Fest seinen
Namen gab, steht ebenfalls in Kolayat. Der See, darauf sei noch
hingewiesen, trocknet schon wenige Monate nach dem Monsun aus. 32 km vor
Bikaner liegt Gajner, wo ein Sommerpalast der Maharajas in ein Hotel
umgewandelt wurde. Der Palast ist am Ufer eines Sees errichtet, der zum
Naturschutzpark vom Gajner gehört. Den Rest der Strecke fahren wir
bedeutend langsamer, denn mittlerweile ist auch das Dach des Busses
randvoll mit Passagieren besetzt. Wie wir später von ausgequetschten
Zahnpastatuben ablesen können, sind unsere Rucksäcke ebenfalls als
Sitzmöbel anerkannt. So stark überforderte Transportmittel haben wir in
Rajasthan nur im Distrikt Bikaner gesehen.
Die Ankunft in Bikaner, dem häufig als ,,die einzig wahre Wüstenstadt
inmitten endloser Sanddünen“ beschriebenen Ort, ernüchtert und enttäuscht.
Wie sehr sehnen wir uns nach Jaisalmer zurück! Es ist, als seien die
Wanderdünen selbst aus Langeweile am Ort vorbeigezogen. Der Übergang vom
Land in die Stadt ist eher fließend: man sieht nur immer mehr Geschäfte,
mehr Menschen im Bus als auch draußen, mehr Kamele, mehr Staub und Gewühl.
Bikaner (Distrikthauptstadt), Höhe ü. d. M.: 237 m
Industrie und Handwerk: Gips, Wolle; Färbereien,
Teppiche (in Gefängnissen geknüpft), Töpfereien, Kamellederarbeiten,
Holzschnitzer; Kamelzucht
Transport: Zug, Bus; Taxi, Tonga, Rikshwa, Scooter, nach Bikaner kommen
nur wenige Einzelreisende
Stadtbild: Die Busfahrt nach Bikaner hat uns ganz treffend in die
bedrückende Atmosphäre der Stadt eingestimmt. Leidenschaftslos oder gar
ablehnend stehen wir am Busbahnhof bei der Festung von Bikaner den
Rikshawfahrern gegenüber, die nicht recht wissen, was sie mit uns anfangen
sollen. ,,Hotel?“ Ja, aber ein sauberes: sauberer als die Stadt. ,,Clean?
What this? You want eat?“ Essen auch aber zuerst ein Hotel. ,,Hotel?“ Wie
in Jodhpur läuft es darauf hinaus, daß wir uns im Tourist Bungalow
einquartieren lassen. Unser Fahrer strampelt an der Festung vorbei. Wie
schön war die Burg auf Fotos! Dann durch den Ganga Park, der mit seinem
kleinen Zoo an den Umaid Park in Jodhpur erinnert. Das 1980
fertiggestellte Tourist Bungalow liegt in der Nähe des Ganga Golden
Jubilee Museums, weit außerhalb der Altstadt. Mit Schrecken denken wir an
den Fußmarsch, der der morgigen Besichtigung der Altstadt vorausgehen
wird.
Da wir uns am nächsten Tag noch nicht recht zu einem Marsch entschließen
können, sehen wir uns erst einmal das Museum an. In dem einfallslos
gestalteten Rundbau sind neben Funden aus der Harappa-Zeit und Skulpturen
der Gupta-Periode noch einige Miniaturen der Schule von Bikaner
ausgestellt. Begeisterung will bei uns nicht aufkommen. In Etappen,
unterbrochen von Pausen auf Parkbänken, unter Bäumen und vor den
Vogelkäfigen des Zoos, tasten wir uns widerwillig bis zur Festung vor. Der
schrfe Kontrast zwischen der gräßlichen Buntheit der die Parkanlagen
zierenden Märchen-und Göttergestalten und der zarten Farbigkeit der
Bougainvillea hat etwas Lähmendes. Nie vermag man zu entscheiden, was von
beiden Indien ist. Beides ist ernst gemeint und ist es wieder nicht. Tag
um Tag pendelt man zwischen beiden Extremen, hat sich entschieden und wird
dann wieder vom Gegenteil überzeugt. Heute ist unsere Meinung
unumstößlich: heute ist Indien häßlich.
Die Junagarh-Festung wurde in den Jahren 1588 – 93 von Rao Rai Singh auf
einer mickrigen Anhöhe erbaut. Hinter dem Eingangstor Suraj Pol stehen
zwei erbärmliche Elefantenskulpturen. Die anderen, seit langer Zeit mit
schweren Eisenschlössern verriegelten Tore wurden der von einem Graben
umgebenen Festung erst im 17. Jhdt. hinzugefügt. Wie in Jodhpur ließen
auch die Herrscher von Bikaner ihre Paläste innerhalb der Fortmauern
errichten. Die Anlagen wurden bis ins späte 19. Jhdt. erweitert, und noch
kurz vor der Unabhängigkeit fügte Maharaja Ganga Singh eine Audienzhalle
hinzu. In den Palastbauten sind eine Bücher- und eine Waffensammlung
untergebracht. Vom Suraj Pol gelangt man durch einen Tunnel in den Hof der
Festung, der immer mehr verwildert. Teile der Festung werden heute von der
Verwaltung genutzt. Im Tunnel stehen in Reih’ und Glied die Fahrräder der
Beamten.
Konnten wir der Festung noch gute Seiten abgewinnen, so verhilft uns die
ungepflegte Altstadt wieder zu unserer alten Stimmung. Die zum Teil reich
dekorierten Häuserfassaden fallen in dem staubigen Gewimmel kaum auf.
Allein die fünf Stadttore aus dem 18. Jhdt. erinnern an schönere Zeiten,
verbessern den Gesamteindruck jedoch nur unwesentlich. Mit finsterer Miene
ziehen wir uns ins Hotel zurück.
Der Charakter der Neustadt Bikaners wurde weitgehend von Maharaja Ganga
Singh (1881 – 1942) geprägt. Mit seiner ehrwürdigen Gestalt ist er das
Urbild des Maharajas, wie es in den Köpfen von Indienträumern spuken mag.
Ganga Singh war nicht nur bei den Engländern beliebt, sondern, wegen
seines zur damaligen Zeit ungewöhnlichen Bemühens um das Wohl des Volkes,
auch bei seinen Untertanen. So war er der einzige Maharaja, der sich um
die Bewässerung von Agrarland kümmerte. Sein bedeutendstes
Bewässerungsprojekt war der 144 km lange Gang Canal. In Ganga Singhs
Residenz, dem zwischen 1900 und 1920 erbauten Lalgarh Palace, ist eine
Kostbarkeit ausgestellt, deretwegen wir jederzeit wieder in das sonst so
ungeliebte Bikaner fahren würden: die Fotosammlung der Maharajas.
Der Palast steht in einer reichlich trostlosen Gegend, etwa 3 km außerhalb
der Altstadt. Ein Teil des Lalgarh wird heute als Hotel genutzt, der
restliche Teil kann gegen eine geringe Gebühr besichtigt werden, wobei man
von einem Führer begleitet wird, der leider immer wieder zur Eile
antreibt. Vor allem ist er darum bemüht, uns von den Fotos abzulenken und
auf die für ihn wichtigeren Gegenstände wie chinesische Seidenvorhänge,
Jagdtrophäen oder italienischen Marmor hinzuweisen. Die Bilder, einige
reichen bis in die Anfänge der Fotografie zurück, hängen, liebevoll garhmt
und mit Erläuterungstexten versehen, an nahezu allen Wänden der
Palasträume. Empfänge, Hochzeiten, Portraits, Prozessionen,
Stadtansichten, Jagdszenen, der Maharaja läßt sich mit Silber aufwiegen,
der Maharaja als Sportschütze bei der Olympiade, dazu alte Landkarten,
Zeichnungen, Karikaturen, Dokumente – endlich nimmt das 19. Jhdt., das oft
mit hilflosen Phrasen umrissene Leben der letzten Maharajas Gestalt an. In
Vitrinen verschlossen, liegen Akten aus der 500-jährigen Geschichte der
Stadt sowie noch unzählige Fotoalben, die wie leider nicht durchblättern
dürfen. Unser Begleiter erzählt uns noch, der Bruder des Maharajas, des
Mannes also, dem heute der Titel zustehen würde und der das Hotel leitet,
lebe als Geschäftsmann in Jaipur. Seine Schwester sei glücklich in London
Verheiratet. Dann werden wir in ein Büro geführt, wo wir uns in das
Gästebuch eintragen dürfen. Zum Abschluß bietet uns unser Führer ein
Reiskorn zum Kauf an: in winzigen Lettern steht darauf der Name des
Maharajas. Jedenfalls behauptet das unser Begleiter. Für unsere Augen ist
die Schrift zu klein.
Ausflüge von Bikaner aus:
Die Chhattris der Herrscher liegen bei Devi Kund, etwa 8 km östlich von
Bikaner. 5 km außerhalb befindet sich am Bhandsagar ein Jaintempel aus dem
16. Jhdt. Ein anderer Ausflug führt zur 10 km entfernten Kamelfarm. Der
Kolayat-See und das Reservat von Gajner wurden bereits auf der Fahrt von
Jaisalmer nach Bikaner erwähnt. Ein weiteres Reservat, das Tal Chhapar,
liegt östlich von Bikaner. Ein letzter Ausflug gilt dem Rattentempel von
Deshnok.
Gestern abend haben wir mit einem recht sympathischen Taxi fahrer den
Preis für eine Fahrt nach Deshnok ausgehandelt. Heute holt uns ein
unfreundlicher Jüngling ab. Wir fragen uns, wie der andere Fahrer am
Geschäft beteiligt ist. Auf unseren Wunsch halten wir zuerst beim Dorf
Udayramsar, wo ein Krankenhaus von Sanddünen begraben sein soll. Der
Fahrer fragt uns verächtlich, was wir hier wollen. Geht ihn nichts an. Wir
steigen aus, trampeln eine halbe Stunde über Dünen. Nichts Besonderes zu
sehen. Weiter. Die Passanten blicken neugierig in das Taxi. Es ist, als ob
sie Ausländer schon von weitem riechen.
Deshnok finden wir ganz gemütlich. Wir parken im Schatten eines Baumes vor
dem Karni-Mata-Tempel. Der Westen wurde erst vor wenigen Jahren auf
Deshnok aufmerksam, als bekannt wurde, daß hier Bishnois Ratten verehren.
Die Bishnois glauben, daß ihnen nach dem Tod eine Wiedergeburt als Ratte
im Tempel der Göttin Karni (Durga) gewährt wird.
Am Eingang müssen wir wie allen Tepmeln unsere Schuhe ausziehen: hinein in
die Rattenscheiße. Eingentlich habe ich noch nie einen Hindutempel mit so
viel Spannung betreten. Es ist Sensationslust, die uns herlockt. Vielen
Indern, denen wir hier begegnen, sehen wir an, daß sie das gleiche Motiv
bewegt. Wir Ausländer können einfach nur schauen, neugierige Inder müssen
nebenbei den vorgeschriebenen Ritus abspulen. In den Gesichtern dieser
Leute steht der gleiche Ekel, den wir zu verbergen suchen.
Ein Drahtgitter über unseren Köpfen schützt die Ratten vor Raubvögeln. Die
wohlbehüteten Tiere, die sich gegenseitig mit den verschiedensten
Krankheiten anstecken, sehen noch widerlicher aus als ihre Artgenossen in
Freiheit. Einige Menschen im Tempel benehmer sich so, wie wir eigentlich
von allen erwartet hatten. Einer legt sich der Länge nach auf den mit Kot
übersäten Boden, andere geben Opferspeisen, hindern die Ratten nicht
daran, ihnen über die Füße zu laufen. In einer Ecke sitzt ein Mann vor
seinem Mittagessen. Über den Tellerrand beugen sich Ratten die sich am
Mahl beteiligen.
Der ,,Temple Manager“ bittet uns um eine Spende. Der geschwätzige alte
Mann erfindet für uns ein paar Schmeicheleien. Wir blicken verlegen auf
die Ratten ,,Viele Touristen begegnen den Ratten mutiger als meine
Landsleute“, erzählt er uns. Eine Frau kreischt dazwischen, weil sie in
Unachtsamkeit auf ein Tier getreten ist. Zumindest wären wir vorsichtiger.
Ein Mann versucht, eine Ratte davonzuscheuchen, die aber beharrlich wieder
kehrt. Die braune Hand, die ohne Kraftanstrengung aber bestimmt das graue
Tier über den Stein fegt, die Füßchen, die auf dem glatten Boden Halt
suchen und dann zurücktrippeln, werden mir in Erinnerung bleiben. ,,Ihr
habt Glück, es ist Fütterungszeit. Die Ratten bekommen eine Speise aus
Milch und Zukker.“
Vor dem Tempel gibt es keine Möglichkeit, sich die Füße zu waschen. Unser
Fahrer war draußen geblieben. Er weiß scheinbar alles besser. Wir laden
ihn zu einem Tee ein, wundern uns über unsere Gelassenheit und beobachten
die Ankunft von Bussen mit einheimischen Pilgern und Touristen. |