GESCHICHTE DER STÄDTE
In Indien ist es gang und gäbe, daß Straßen oder Brücken von einer
hohen Persönlichkeit eingeweiht werden, wann immer es dieser beliebt. 1648
überwachte Kaiser Shahjahan die Grundsteinlegung für sein Delhi: “In der
Nacht vom Freitag, denn 25. Zi’l Hijja, im zwölften Jahr seiner
verheißungsvollen Herrschaft… zu der von den Astrologen vorbestimmten Zeit
wurde das Fundament mit den üblichen Zeremonien gelegt. “Auch Jai Singh
hatte sich zweifellos den Astrologen gebeugt, wenn er auch für seine
Vorliebe für Astronomie bekannt ist. Er errichtete in vielen Städten
Observatorien und sah seinen eigenen Worten zufolge den Allmächtigen in
seinem Reich,,, den König der Könige, in dessen Buch der Macht die luftigen
Himmelskörper nur ein paar Seiten sind, die Sterne winzige Münzen im Schatz
des Allerhöchsten.
Kreuzungspunkte der Karawanen: Auf der Landkarte Indiens gleichen
die Städte Nadeln, die verschiedene Materialien festhalten. Das hohe
Mewar-Plateau und die große indische Wüste Thar trennen das Indus-Tal vom
Ya-muna-Ganges-Tal. Ponton-, Stein-und Eisen Brücken überspannen die Flüsse;
Wüsten sind hingegen schwer zu durchqueren. Die als solche nur im Vedas und
Mahabharata bekannte Wüste (maru in Sanskrit) erhielt im späten Mittelalter
den Namen Rajasthan -,,Land der Königssöhne”. Sie ist umringt von Gebieten,
deren Namen eindeutig geographischen Ursprungs sind: Sind (vom sindhu, dem
Fluß Indus), Punjab (panch – fünf, aab – Wasser, somit ,,Land der fünf
Flüsse”) und Doab (do –zwei, für die von Ganges und Yamuna durchströmten
Niederungen). Vor vielen Jahrtausenden war Rajasthan ein grünes und
blühendes Land, durchzogen vom Fluß Saraswati, der einst in den Indus
mündete, bevor er für immer unter der Erde verschwand und den Archäologen
bis heute Rätsel aufgibt. Die mit Krishna in Verbindung gebrachte Region
Brajbhumi erstreckt sich mit ihren wichtigen Zentren Mathura und Vrindavan
am Ufer des Yamuna, reicht jedoch weit nach Rajasthan hinein bis zum Schrein
von Nathdwara.
Jahrhundertelang kreuzten sich in den Städten am Yamuna die Straßen
von der Westküste zum Himalaya und von Afghanistan zur Bucht von Bengalen.
Salzkarawanen von der Küste trafen auf mit Weizen bepackte Tiere aus dem
Punjab. Juwelen aus Rajasthan und Elfenbein aus Delhi wurden gegen Gujarat
Seide und bengalische Baumwolle getauscht.
Als sich diese Städte zu stabilen Zentren blühender Königreiche
emporschwangen, entwickelten die wohlhabenden Familien der herrschenden
Klasse einen ungezügelten Appetit auf alles, was schön und ungewöhnlich war.
Die Weber, Bildhauer und Maler perfektionierten ihre Kunstfertigkeit, um den
Anforderungen ihrer Herren gerecht zu werden. Später entwickelte sich ein
weniger sachverständiger und dennoch großer Markt in den Überseeländern.
Nach der Unabhängigkeit verschaffte die Renaissance des Kunsthandwerks dem
Handwerk einen neuen Auftrieb.
Gewaltige Festungsanlagen: Im 17. Jahrhundert erforschten die ersten
europäischen Reisenden Nordindien und bewunderten seine Festungen und
Städte, neben denen die europäischen kümmerlich erschienen. Auch denen, die
sich, mit einem Buch bewaffnet, in ihren Lehnstuhl kuschelten, um fremde
Länder zu bereisen, waren die Städte Agra und Delhi bald ein Begriff. Von
Jaipur erfuhren sie, als Colonel Tod um 1830 die Wüstenkönigreiche in
Augenschein nahm ein dreibändiges Werk feuriger Prosa verfaßte, in dem
Mythen und Tatsachen zu einer faszinierenden Erzählung zusammenflossen. Das
Eisenbahnprojekt, das Delhi und Agra mit Kalkutta und später mit der
Westküste verband, brachte Touristen nach Rajasthan, das den offiziellen
Namen Rajputana trug. Im späten 19. Jahrhundert stand Jaipur bei Reisenden
aus einem anderen Grund hoch im Kurs: Delhi und Agra gehörten zu den
Epizentren des Aufstands von 1857, während sich die Prinzen von Rajasthan
den Briten gegenüber loyal verhielten. Dafür wurden sie auch belohnt. Als
Känigin Viktoria 1877 zur Kaiserin proklamiert wurde, verliehen sie ihnen
den Staus von Feudalherren unter britischer Oberherrschaft. Der Herrscher
von Jaipur folgte nur einer Tradition der ,,gütlichen Einigung “. Denn als
Nachfahren der Kachchwahs, die sich im 10. Jahrhundert in der Wüste
niedergelassen hatten und über den Gott Rama eine Abstammung von der Sonne
für sich beanspruchten, hatten die Urahnen des Herrschers im 16. Jahrhundert
auch die Oberhoheit der Moguln anerkannt.
Im18. Jahrhundert war Jaipur die bedeutendste Stadt Nordindiens,
vergleichbar mit Delhi im 17. und Agra Im 16. Jahrhundert. Für Rajasthan
hatte sie eine eher ungewöhnliche Anlage, da das Fort nicht auf Felsen
erhöht, sondern mitten in der Ebene stand – ein Symbol für die in alle
Richtungen offene Geisteshaltung von Raja Jai Singh. Den rosafarbenen
Sandstein von Delhi und Agra kopierte man in Jaipur durch Bemalung.
Facettierte Spiegelhallen funkelten in den Palästen der frei Städte,
Blumenmuster zogen sich durch die Rajasthani-Textilien, die Edelsteinmosaike
im Taj Mahal und die Basreliefs aus Sandstein im Fort von Delhi. Auch in der
Mode lehnten sich die Herrscher von Jaipur an die Moguln an und gewährten in
Krisenzeiten schutzsuchenden Hofdichtern und Künstlern aus Delhi oder Agra
Zuflucht. Der Durbar von Jai Singh entsprach dem, was Fatehpur Sikri unter
Akbar war – ein echter Renaissance-Hof. Jaipur selbst hatte zwar nicht unter
persischen und afghanischen Invasionen zu leiden wie Delhi, doch die
Gleichgültigkeit von Jai Singhs Nachfolger führte dazu, daß seine kostbare
Bibliothek in alle Winde zerstreut wurde. Ende des 18. Jahrhunderts wurden
die drei Städte von den leichtfüßigen Kriegern der Marathen aus dem
Südwesten heimgesucht. Wäre es den Eindringlingen geglückt, die Unterwerfung
über längere Zeit hin fortzusetzen, hätte es wohl ein richtiges Maharashtra
(maha – groß, rashtra – Königreich) gegeben, das einen Großteil Rajasthans
und die nördliche Ebene umfaßt hätte. Doch sie wurden.
letztlich von der britischen Armee ausmanövriert, die von Kalkutta
über das Ganges-Tal eindrang. Mit militärischem und diplomatischem Geschick
errichteten die Briten eine effektive Kontrollinie. 1803 verschaffte ihnen
eine entscheidende Schlacht einen Gebietsgewinn, der ihnen auch Delhi und
Agra einbrachte. Von dort steuerten sie auf Afghanistan zu und eigneten sich
auf dem Weg dorthin auch gleich den Punjab und Sind an. Rajasthan entging
der Eroberung. Nach der Revolte von 1857 wurde diese Gefahr durch eine
großzügige Proklamation der Briten für immer gebannt. So war den Herrschern
von Rajasthan das Unmögliche gelungen: Sie hatten ihre Identität behalten
und gleichzeitige gute Beziehungen zur herrschenden Macht auf gebaut.
Werke von zeitloser Bedeutung: Seit dem 12. Jahrhundert hatte sich
die Fahne des Schicksals beständig gedreht. Delhi und Agar fungierten
abwechselnd als Sultanat und Mogul-hauptstadt. Aufgrund der Ereignisse von
1857 wurde Delhi zu einer Provinzstadt des Punjab degradiert, 1911 jedoch
überraschend zur Hauptstadt von Britisch-Indien erkoren. Agra war die
Hauptstadt der nordwestlichen Provinzen, mußte diese Rolle jedoch später
Allahabad überlassen. Jaipur blieb auch nach der Unabhängigkeit ein
Rajput-Staat und wurde zur Hauptstadt der neuen Provinz Rajasthan gewählt.
Somit ist Jaipur das Tor zu Rajasthan und Agra eine geschäftige, dicht
besiedelte Stadt, in der der einstige Glanz des Mogulreichs schlummert.
Inmitten der Hektik unserer Tage nehmen diese Städte ihre
Vergangenheit als etwas Selbstverständliches hin. Alle haben sie in den
letzten vierzig Jahren an Größe und Bevölkerung zugenommen, und die
Menschenmassen und das Chaos stürzen den Besucher beim erstenmal oft in
tiefe Verwirrung. Es erklärt auch den Landhunger, der dazu führt, daß jeder
verfügbare Quadratzentimeter beansprucht und genutzt wird. Umso
erstaunlicher ist es, daß im modernen Inferno dieser drei Städte die
zeitlosen Bauwerke aus einer geruhsamen und großzügigen Epoche ihren
unwiderstehlichen Glanz verbreiten – wie Juwelen in einem Korb voller
Steine. |